In sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet ich als junger Leutnant Ende September 1943. Schon bald kam noch ein Kriegsgefangener hinzu, ein Student, der auch Russisch gelernt hatte, was für uns beide von Vorteil war. Gemeinsam wurden wir zu einer höheren Stabseinheit gebracht, die der nach Westen vorrückenden Front der Roten Armee folgte. Wir beide blieben etwa drei oder vier Tage bei dieser Einheit und wurden auch zur Versorgung dieser Einheit herangezogen, Holz holen und hacken, Wasser tragen u.ä.
Eines Abends kamen wir nach einer längeren LKW‑ Fahrt immer weiter in Richtung Westen in ein fast völlig zerstörtes Dorf. Nur am Dorfrand standen noch einige verschont gebliebe ne Holzhäuser. Die deutschen Truppen hatten das Dorf offenbar erst kürzlich verlassen. Die Offiziere gingen in eines dieser Häuser mit zwei großen Räumen. Im ersten stand der tradi tionelle große russische Ofen, der auch den zweiten Raum beheizte. Ein Hauptmann wies uns in den vorderen Raum ein und begab sich mit den beiden anderen Offizieren in den hinteren.
Im ersten Raum befanden sich eine ältere Frau und ein älterer Mann, sicher ein Ehepaar, dem dieses Haus gehörte, Sie waren erst einmal sehr erschrocken, als plötzlich zwei Deutsche auftauchten, wurden aber schnell von den Offizieren beruhigt. Wir seien unge fährlich, da Gefangene. Nachdem wir beide eine Weile still auf einer Holzbank gesessen hatten, fing die alte Frau plötzlich zu weinen an und hörte nicht auf. Sie konnte sich nicht beruhigen. Sie schaute uns an und weinte, weinte. Ich war verunsichert, erregt, verängstigt. Was war Schreckliches passiert? Was war der Grund ihres großen Schmerzes? Zerstörtes Eigentum? Weggetriebenes Vieh? Oder war Kindern, Verwandten Schlimmes widerfahren? Als ihr Weinen schließlich etwas nachließ, bat ich den Kameraden, er könne vielleicht mit seinen Russischkenntnissen herausbekommen, was der Grund ihres Kummers sei. Er kam mit ihr ins Gespräch, übersetzte und erzählte mir dann, was für mich eine der bewegendsten Erfahrungen in all den fünf Jahren meiner Gefangenschaft geblieben ist. Bis auf den heutigen Tag.
Die alte Frau sagte, sie weine über „unser“ Schicksal. So jung seien wir, und nun säßen wir hier. Zu Hause wissen unsere Mütter nicht, was mit uns geschehen ist, Sie selbst habe auch einen Sohn an der Front. Sie wisse auch nicht, wo er ist, wie es ihm geht, ob er noch am Leben ist. Sie fragte: Warum können die Menschen nicht in Frieden miteinander leben? Warum dieser schreckliche Krieg? Warum nur seid ihr nach Rußland gekommen?
Von diesen einfachen Worten war ich tief betroffen. Es ist schwer, sich die beschriebene Szene genau vorzustellen. Da sitzen zwei deutsche Soldaten, jetzt Kriegsgefangene, in einem Dorf, das erst kurz vorher fast völlig durch die zurückweichende deutsche Armee zerstört worden war. Ich selbst bin mir nicht einmal ganz sicher, ob ich überhaupt am Leben bleibe werde. Und in dieser Situation erschüttert mich die ganz einfache menschliche Regung dieser russischen Mutter, die ihren Kummer und ihre Angst um den eigenen Sohn mit dem Kummer unserer Mütter daheim teilt!
Mir fehlen die Worte, dieses unvergeßliche Erlebnis in seiner ganzen Tiefe zu beschreiben. Ich fürchte, daß es beim Lesen fast banal oder gar erfunden klingen könnte. Ich kann es nie ohne innere Bewegung schildern. Die Worte dieser Frau haben mein Nachdenken über den Krieg stark beeinflußt, obwohl ich den tiefen Sinn ihrer Äußerung sicher nicht sofort erfaßt hatte. Aber im weiteren Verlauf meiner Gefangenschaft haben diese Worte auf mein Ver halten einen größeren Einfluß ausgeübt als manch ein Buch oder manch ein Vortrag. Das war ein entscheidender Anstoß zu der Erkenntnis, daß auch ich durch meine Teilnahme an diesem Krieg, zu dem ich mich nach dem Abitur freiwillig gemeldet hatte, eine Mitschuld am Krieg trug. Daraus ergab sich für mich alsbald die Schlußfolgerung, durchstehe ich gesund die Gefangenschaft, so will ich alle meine Kräfte dafür einsetzen, daß Deutsche nie wieder Krieg gegen andere Völker und andere Staaten führen.
Ferdinand Thun
2005