In diesem Jahr erlebte ich Moskau zum ersten Mal während der Mai-Feierlichkeiten – als Mitglied einer Reisegruppe der “Berliner Freunde der Völker Rußlands” (6.-11. Mai). Es gab bewegende persönliche Erlebnisse – und manch zwiespältige Eindrücke.
Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel stiegen wir am Panzersperren-Denkmal nahe Chimki aus und legten dort Blumen nieder im Gedenken an die Verteidiger Moskaus, die hier im Winter 1941/42 den Aggressor in seinem Vormarsch gestoppt und zum Rückzug gezwungen haben. Der Autostrom braust heute weit dichter an dem Denkmal vorbei als in früheren Jahren; aus gar nicht weiter Entfernung blinken die auch in Deutschland bekannten Firmen-Schilder von Ikea herüber. Auf dem weiteren Weg in die Stadt häufen sich solche Bilder: Transparente zum “55. Jahrestag des Sieges” und solche der Werbung für Banken und Firmen spannen sich, nicht selten nebeneinander, über die Boulevards. Eins der Plakate am Straßenrand zeigt auf der einen Seite zwei hochdekorierte Kriegsveteranen, die zum Tag des Sieges einander gratulieren, und auf der anderen Seite: Werbung für Pepsi. Im Zentrum, auf dem Manegenplatz, erheben sich neuerdings merkwürdige gläserne Kuppeln; sie gehören zu einem dreistöckigen unterirdischen Konsum-Palast für Luxusbekleidung. Auf den Straßen aber sieht man nicht wenige, besonders ältere Menschen, die sich dort bestimmt nicht einkleiden.
Auch der 9. Mai selbst und wie er im Moskau des Jahres 2000 zu erleben ist, weckt gemischte Gefühle. Schon die strenge und sehr weiträumige Absperrung des Roten Platzes – erst am 7. Mai, dem Tag der Vereidigung des Präsidenten Putin, und dann besonders am Tag des Sieges, ist frustrierend, läßt die Moskauer außen vor. Und die von Putin abgenommene Parade selbst? “Ins dritte Jahrtausend ohne Krieg” heißt es auf den Plakaten. Probleme und Widersprüche bleiben. Und auch für uns gilt: Nachdenken über 1945 und heute, über “die Russen und uns”, muß jeder für sich selbst. Am Nachmittag des 9. Mai legten wir am Grabmal des unbekannten Soldaten ein Blumengebinde nieder und gedachten der gefallenen Rotarmisten, die mit ihrem Sieg auch das deutsche Volk vom Hitler-Faschismus befreit haben.
Am Abend war das Zentrum voller Menschen. Besonders jüngere Moskauer nutzten den Feiertag zum Flanieren durch den Alexandergarten. Was denken, was empfinden junge Moskauer an diesem Tag? Nicht nur die Wasserspiele sind umlagert. Wie schon am Vortag sieht man auch am 9. Mai immer wieder “ganz normale” Moskauer, auch Mütter mit ihren Kindern, Blumen am Grabmal des unbekannten Soldaten niederlegen.
Das gemeinsame Abendessen mit den Veteranen der 5. Stoß-Armee des Generaloberst Bersarin gestaltete sich zum Höhepunkt unserer Reise. Die Atmosphäre – Tisch-reden gingen hin und her – war ausgesprochen freundschaftlich. Auch im Zwiege-spräch war der Kontakt rasch hergestellt. Die hohen Offiziere von damals begegnen uns, den einstigen “Feinden”, aufgeschlossen und herzlich. Eine Haltung, die ich seit den ersten Nachkriegsjahren von seiten sowjetischer Kriegsveteranen wie russischer Kollegen immer wieder mit Verwunderung und Respekt erlebt habe.
Die diesjährige Reise galt insbesondere dem Gedenken an den ersten Berliner Stadtkommandanten Nikolai Bersarin (1904-1945). Seine Enkelin, Dr. Alexandra Pasuk, hatte für uns – außer dem speziellen “Bersarin-Programm” – auch kulturelle Glanzlichter vorbereitet: eine kundige, sehr engagierte Führung durch die Tretjakow-Galerie und den Besuch des Bolschoi-Theaters zur Premiere des Balletts “Die Tochter des Pharao” von Cesare Pugni (Choreographie: Pierre Lacotte) – ein einmaliges Erlebnis.
Der Blick zurück und auf das Heute, die Diskrepanz zwischen dem so verlustreich erkämpften Frieden und dem noch immer und erneut wieder schweren Alltag ist bedrückend und stimmt traurig. Aber die Begegnungen mit den Menschen in Moskau, ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft sind es auch, die ermutigen und erwärmen. Das konnten wir erleben im Gespräch mit den Kriegsveteranen, in der herzlichen Aufnahme durch die Bersarin-Enkelin, der ich hier für all ihre Mühen danken möchte, wie auch in der stetigen iHilfsbereitschaft der eigenen alten Bekannten.
30. Juni 2000 Dr. Helga Köpstein
Geschichte einer Moskau-Reise von Helga und Gert Porsche
1939 reißt Hitlers Politik die Menschheit in einen neuen Weltkrieg und fügt unendlich Vielen großes Leid zu. Auch Berlin hat in den folgenden Jahren einen hohen Preis zu zahlen: Nach fast 4OO Luftalarmen ist die Stadt in heute unvorstellbarem Maße zerstört. Keinen dieser Angriffe habe ich „versäumt“.
1945 das Finale, der Angriff der Roten Armee auf die Stadt. Nunmehr Granaten statt Bomben, Berlin versinkt in einem Meer von Blut und Tränen. Hitlers letzte Verteidiger sprengen die Brücken, die Lebensstränge der Stadt werden zerrissen. Eine Millionenstadt ohne Strom, Wasser, Gas und Kanalisation, sämtliche Kommunikations- und Verkehrssysteme scheinen auf Jahre zerstört. Berlin ist technisch tot! Als 12-jähriger erlebe ich das Drama.
Der erste sowjetische Stadtkommandant, Nikolai E. Bersarin, erweist sich als Retter in höchster Not, Goebbels Propagandageschrei vom „Siegen oder Untergehen“ wird sofort widerlegt, erleichtert und staunend nehmen es die Berliner zur Kenntnis. In nur 54 Tagen schafft er es zusammen mit seinem Stab und vielen freiwilligen Helfern, die Stadt zu reanimieren. Die Reparatur- und Aufbauleistung in jenen Tagen ist gewaltig. Ein Bischof, ein Propst und ein leibhaftiger späterer CDU-Bundesminister werden ihm dafür in ihren Memoiren höchstes Lob spenden. Von antiker Tragik sein früher Tod: In der Stadt, die der Zielpunkt all seines Willens und militärischen Könnens gewesen war, fällt er bei einer Wiederaufbauinspektionsfahrt einem banalen Verkehrsunfall zum Opfer.
6.5.2000: Flug nach Moskau. Unsere Gedanken fliegen schneller als das Flugzeug. Unten Felder, Wälder, Flüsse, keine Gebirge, laut Wehrmachtsführungsstab „Flaches Tafelland, für Panzer gut geeignet”.
Fahrt in Richtung Stadtzentrum. Die Geschichte holt uns schnell ein: Wir kommen zu dem äußersten Punkt, den die Deutsche Wehrmacht 1941 erreicht hatte. Hier ein schlichtes Denkmal, das aber kraftvoll ausdrückt: Bis hierhin und nicht weiter!
7.5.2000: Alexandra Lazuk, Enkelin Bersarins, hat einen Galerie-Besuch organisiert: Wunderbare Bilder von russischen Malern mit zum Teil geschichtlichen oder sozialkritischen Motiven. Das russische Volk stand wohl nie auf der Sonnenseite des Lebens! Die Führerin ist rührend und mit Erfolg bemüht, uns die russische Gemäldekultur in gutem Deutsch zu vermitteln. Mittags sitzen wir zum Essen im Restaurant des Fernsehturms. Auch er natürlich größer und höher als der Unsrige. Der Blick auf Moskau läßt die Ausmaße dieser Riesenstadt erahnen. Abends ins Bolschoi-Theater, ein Traum! Ein eindrucksvolles Bauwerk, eine grandiose Aufführung des Balletts „Die Pharaonin“. Wir sind uns anschließend einig, soeben eine der schönsten, wenn nicht die schönste Theateraufführung unseres Lebens gesehen zu haben.
8.5 .2000 : Besuch am Grabe Bersarins. Er liegt auf einem Ehrenfriedhof zusammen mit prominenten Politikern wie Chrustchow, Kossygin und Gromyko, aber auch wichtige Persönlichkeiten Rußlands aus Kunst und Wissenschaft sind dort begraben. Stilles Gedenken, die Bilder von 1945 steigen auf, Emotionen, Dank an einen Mann, der sich so große Verdienste um Berlin erworben hat.
Anschließend Besuch im “Jungfrauen-Kloster“, das direkt neben dem Friedhof liegt und einen gepflegten Eindruck macht. Religion faßt offensichtlich wieder Fuß in Rußland
Danach zum Poklonnaja-Gora-Park, wo bereits ein großes Volksfest im Gange ist. Im dortigen Museum sind wir emotional aufgewühlt im „Saal der Tränen“, der mit großer künstlerischer Kraft die Leiden der Sowjetvölker symbolisiert. Man hat dort Tausende Glasperlen an Kettchen aufgehängt, die die ungezählten Tränen der Menschen darstellen. Totenbücher ergänzen das eindrucksvolle Bild. Um so schrecklicher gleich nebenan der schändliche Befehl aus dem Bereich der deutschen Kriegsmarine, (nicht etwa der SS) möglichst viele Menschen im eingeschlossenen Leningrad verhungern zu lassen.
9.5.2000: Vormittags führt uns Horst Herrmann zur Bersarinstraße, deren Existenz ja auch von der Berliner CDU verleugnet wurde. Nicht nur die Straße gibt es, sondern auch ein respektables Bersarin-Denkmal, vor dem wir viele Blumen vorfinden. Eine weitere Widerlegung haltloser CDU-Tiraden. Es ist der Tag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“: Für die Russen der höchste Feiertag, egal unter welchem politische Regime auch immer.
Abends großes Festessen bei den Veteranen der 5. Stoßarmee und ein herzliches Wiedersehen mit Larissa, die mit Ehemann und im Schmuck ihrer Orden erscheint. Die Tafel ist übervoll, die Gespräche sind freundlich, die Atmosphäre unbefangen den Deutschen gegenüber.
Der Abend verläuft in voller Harmonie, und wir versprechen Larissa, uns weiter für eine neue Berliner Ehrenbürgerschaft ihres Vaters einzusetzen. Dabei verschweigen wir nicht, für wie schwierig wir dieses Vorhaben halten, trotz der inzwischen erreichten parlamentarischen Mehrheit dafür.
10.5.2000: Der Tag ist dem Gedächtnis an Irina Bersarina gewidmet. Alexandra vermittelt einen Besuch in ihrer Schule, die auch die letzte Wirkungsstätte Irinas gewesen ist. Wir werden von Lehrern und Schülern wie eine Regierungsdelegation empfangen, und die Kinder singen, sprechen und spielen uns mit großer Disziplin und dennoch unverkrampft Lieder, Texte und Sketsche vor, die Irina noch mit ihnen einstudiert hatte. Natürlich sparen wir nicht mit Beifall, der uns von Herzen kommt.
11.5.2000: Letzter Tag, Besichtigung mit Herrmanns rund um den Kreml, der leider an diesem Tag geschlossen ist. Roter Platz – Lenin-Mausoleum
Die letzten Stunden gehen schnell vorüber, wir verabschieden uns von Alexandra, die noch einmal gekommen ist und auf dem Heimflug gibt es Zeit, seinen Gedanken über die erlebnisreichen Tage nachzuhängen.
Fazit: Wir wurden bestärkt in unserer Ansicht, daß es in Europa nur dann dauerhaften Frieden und allseitigen Wohlstand geben wird, wenn eine deutsch-russische Aussöhnung und eine möglichst enge Freundschaft erreicht werden. Das seit Kriegsende entwickelte Verhältnis Frankreich/Deutschland kann dabei als Vorbild dienen.
Wir hoffen, daß eines Tages die schon vorhandene „Brücke der Gesundheit Berlin – Minsk“ um den Pfeiler Moskau erweitert werden kann. Frau Dr. Lazuk wird im September 2000 in Berlin sein.