Befreiung und Freundschaft
Das Ende des Krieges 1945 haben die Menschen damals sehr unterschiedlich erlebt und viele nicht oder zumindest nicht gleich als Befreiung. Ich war 16 Jahre alt, gehörte der Hitlerjugend an und dem Volkssturm. Für mich bleibt zweierlei in Erinnerung: eine große Erleichterung darüber, dass die Grausamkeiten des Krieges beendet waren und eine ebenso große Ungewissheit, wie das Leben nun wohl weiter geht.
Noch als Schüler und dann als Lehrling erlebte ich die Bombardierungen Berlins. Sehr viel Schlimmes sah ich in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1945. Der sinnlose Versuch von Einheiten der Wehrmacht, entlang der Schönhauser Allee die Front zu durchbrechen, wurde durch die Rote Armee schon im Ansatz gestoppt. Es dauerte Stunden bis die vielen Verwundeten versorgt werden konnten.
Ich entging der Gefangennahme und kehrte zu meinen Eltern zurück. Das Leben normalisierte sich langsam. So erinnere ich mich an die Wiedereröffnung der ersten Kinos. Wir Jugendlichen trafen uns beim Handball auf dem Sportplatz. Eine abenteuerliche Fahrt durch das zerstörte Berlin zu meinem Lehrbetrieb in Berlin-Staaken brachte kein Ergebnis.
Am 5.Juni wurde ich von zu Hause abgeholt zu einem Verhör in der sowjetischen Kommandantur Berlin-Prenzlauer Berg und danach interniert, später sogar von einem Militärtribunal zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Frühjahr 1947 brachte man mich zusammen mit vielen anderen Internierten und Zivilverurteilten nach Sibirien in ein Kriegsgefangenenlager.
Schon vor dieser „Reise“ entwickelte sich bei mir die Erkenntnis, dass ich die schwierigen Lebensumstände, in die ich geraten war, nicht zuerst denen anlasten kann, die mich nicht ganz unberechtigt in Gewahrsam genommen hatten. Die Worte „Wir danken unserem Führer“ bekamen einen neue Bedeutung.
Neben der oft schweren Arbeit, z.B. unter Tage, im Steinbruch, beim Entladen von Eisenbahn-waggons oder als Bauarbeiter, nutzte ich jede Gelegenheit zu geistigem Ausgleich. Ich las Bücher deutscher und russischer Klassiker sowie bekannter sowjetischer Autoren und besuchte Zirkel über Politik und Geschichte. Es gab Filmvorführungen und eine Theatergruppe der Kriegsgefangenen. Unschätzbar wichtig für mein ganzes weiteres Leben waren die Begegnungen mit russischen Menschen während der Arbeit. Ich lernte sie achten und Wort für Wort ihre Sprache verstehen, sprechen und lesen. Erst später begriff ich, das diese Zeit, insgesamt achteinhalb Jahre bis zu meiner Heimkehr im Herbst 1953, für mich eine bedeutende Lebensschule war. Mein wichtigster Lehrer hieß Eduard Reck, ein lettischer Kommunist, den ein widriges Schicksal zum deutschen Kriegsgefangenen gemacht hatte. Er war Leiter des Antifa – Aktivs in unserem Lager. Ihm vor allem verdanke ich, unsere Welt realistisch zu betrachten als Humanist und Internationalist.
Dazu gehört die Erkenntnis: Der 8.Mai 1945 ist, unabhängig von subjektiven Erlebnissen und Ansichten, objektiv ein Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg. Die das nicht begreifen wollen oder können, hängen bewußt oder unbewußt an dem, was davor war und sie haben Richard von Weizsäcker nicht verstanden, der schon 1985 mahnte: „Wir dürfen den 8.Mai 1945 nicht vom 30.Januar 1933 trennen.“
Meine keinesfalls vollkommenen Kenntnisse der russischen Sprache ermöglichten mir in mehr als 50 Jahren unzählige herzliche Begegnungen nicht nur mit Russen, aus denen viele dauernde persönliche Freundschaften und familiäre Verbindungen erwuchsen.
So ist für mich und meine Frau der 8.Mai immer auch ein Tag der Freundschaft, den wir in diesem Jahr schon zum wiederholten Mal in Verbindung mit dem Tag des Sieges am 9.Mai mit guten Freunden in Moskau feiern werden.
Horst Herrmann
2004