Der Vertrag von Brest 1918 und das Problem der europäischen Sicherheit heute

Wir veröffentlichen hier einen Aufsatz von

Dr. Igor Maximytschew

Europa-Institut Moskau

der historische Einblicke und Rückschlüsse zur aktuellen Lage in Europa gibt.

 

Dr. Igor Maximytschew

Europa-Institut Moskau

Der Vertrag von Brest 1918 und das Problem der europäischen Sicherheit heute

Vor 90 Jahren, am 3. März 1918, wurde im stillen provinziellen belorussischen Städtchen Brest der sogenannte Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem bolschewistischen Rußland unterzeichnet. Die Vertreter Deutschlands und seiner Verbündeten einerseits und die Kommissare der siegreichen sozialistischen Revolution in Rußland andererseits haben ihre Unterschriften unter das Dokument debattenlos gesetzt. Debattieren hatte keinen Sinn mehr, da die Deutschen auch ohne Vertrag alles haben konnten – ihre Truppen drangen tief in Rußland hinein, während auf der anderen Seite keine russische Armee da war, die Widerstand leisten konnte.

Der Diktatfrieden von Brest ließ die kühnsten Erwartungen Wirklichkeit werden, die das kaiserliche Berlin mit dem Ostfeldzug verbinden konnte. Das Reich triumphierte. Brest war, von der Reichshauptstadt aus gesehen, die ideale, weil umfassende imperiale Regelung für die benachbarten Ostgebiete. Die erste Etappe der von langer Hand vorbereiteten Expansion gen Osten war im Zuge, realisiert zu werden. Rußland erhielt nach menschlichem Ermessen einen tödlichen Schlag. Sein Auseinanderbrechen durfte unmittelbar bevorstehen, besonders wenn man diesem Prozeß tatkräftig nachhelfen würde. Die so befürchtete Einkreisung Deutschlands war durchbrochen, gigantische Territorien standen nunmehr unter seinem Befehl. Die wirtschaftliche, politische, militärische Kraft des Reiches wurde allem Anschein nach vervielfacht. Den Zweifrontenkrieg konnte man vergessen. Jetzt wurde es für das Reich möglich, sich auf der Westfront zu konzentrieren. Nach dreieinhalb blutigen Kriegsjahren begann am Horizont so etwas wie die Hoffnung auf einen Endsieg zu schimmern. 

Und dennoch wurde der Vertrag von Brest zum Auftakt des Unterganges des Deutschen Kaiserreiches. Denn der große Happen blieb in seinem Halse stecken. Die maßlose Habgier hat, wie so oft in der Geschichte, den Gegenteil des Gewünschten bewirkt.

Wie es zu Brest kam

Der Zwang, alles zu akzeptieren, was das Deutsche Kaiserreich forderte, entstand nicht so sehr aus den russischen Niederlagen auf dem Schlachtfeld. Man weigert sich zu oft im Westen zur Kenntnis zu nehmen, daß die russische Armee sich lange Zeit nicht nur in Verteidigung bewährte, sondern auch zu erfolgreichen Angriffsoperationen fähig war. Die Invasion Ostpreußens (trotz ihrer mangelhaften Vorbereitung und Durchführung sowie katastrophalem Ausgang) hat 1914 den Franzosen erlaubt, ihren „Wunder an der Marne“ (Marneschlacht) zu vollbrigen, denn ein Teil der angreifenden deutschen Truppen wurde eiligst aus Frankreich abgezogen. Übrigens war diese Invasion der einzige Fall im Verlauf des ganzen Krieges, wo die Kriegshandlungen auf dem deutschen Gebiet stattfanden. Nach den Mißerfolgen und Rückzügen von 1915, als die Russen von den Entente-Mächten angesichts der deutschen Übermacht praktisch im Stich gelassen wurden, brachte das Jahr 1916 den berühmten Durchbruch unter Befehl des Generals Alexej Brussilow im südlichen Frontabschnitt, der die Deutschen erneut zwang, teilweise ihre Truppen aus Frankreich abzuziehen, um die Situation um Österreich-Ungarn zu retten. 

Im Laufe von 1917 blieb die deutsch-russische Frontlinie im wesentlichen stabil. Natürlich wurde die russische Revolution vordergründig durch die Kriegsmüdigkeit des Landes hervorgerufen; sie hatte aber auch grundlegende Ursachen, vor allem sozialen Ursprungs. Die Februarrevolution hat nicht vermocht, Probleme Rußlands zu lösen, außer der Abschaffung der Monarchie. Das Schlimmste war – sie brachte keinen Frieden. Die Provisorische Regierung hat nicht begriffen, daß die Soldaten sich einfach weigern würden, den Krieg fortzusetzen, dessen Sinn und Ziele ihnen schleierhaft blieben. Man versuchte sogar eine Offensive zu starten. Selbstverständlich erfolglos. Die Bolschewiken konnten am 25. Oktober (7. November) 1917 die Macht übernehmen, weil sie unter anderem den sofortigen Frieden garantierten. Nun mußten die Taten folgen.

Am 26. November wurden die ersten Kontakte mit den Mittelmächten aufgenommen. Die Russische Sowjetrepublik schlug den Entente-Mächten vor, sich an den bevorstehenden Friedensverhandlungen zu beteiligen. Da die Antwort ausblieb, begann Rußland am 3. Dezember diese Verhandlungen allein. Dem Wunsch der russischen Seite, Gespräche in einem neutralen Land zu führen, wurde nicht entsprochen. Sie fanden daher in Brest, am Sitz des Oberbefehlshabers Ost, Prinz Leopold von Bayern, statt (die Stadt hieß damals genauer Brest-Litowsk zum Unterschied vom französischen Brest). Eigentlich waren das die Vorverhandlungen, denn es ging zuerst um einen Waffenstillstand. Die russische Delegation wurde infolgedessen nicht vom Volkskommissar für das Auswärtige Leo Trotzki, sondern von seinem Mitarbeiter, Arzt und Publizist Adolf Joffe, geleitet, der später der erste sowjetische Botschafter in Berlin werden sollte. Die Gespräche gingen zügig vor sich, und am 5. Dezember wurde der Waffenstillstand für 10 Tage unterzeichnet, der am 15. Dezember um 28 Tage verlängert wurde.

Nach dem Eindruck der Mitglieder der deutschen Delegation war die Atmosphäre der Vorverhandlungen durchaus angenehm. Prinz Leopold berichtete in einem Privatbrief vom 29. Dezember: „Die Zusammenstellung der Gesellschaft ist merkwürdig genug. Von seiten der Russen: zwei Zeitungskorrespondenten, ein Geschichtsprofessor, eine Frau als Stimmberechtigte, alles Sozialisten vom reinsten Wasser, aber interessante, sehr geschickte Leute, denen höhere Offiziere des Heeres und der Marine als Ratgeber zugeteilt sind. Von seiten der Verbündeten hohe und höchste Staatsbeamte und Diplomaten. Durch tägliches Zusammenleben lernt man sich näher kennen“. In der Tat hatten beide Seiten teilweise konvergierende Interessen: Deutschland wollte die Truppen für die Westfront freibekommen, wo Ludendorff drängte, alles auf eine Karte zu setzen; die Sowjets brauchten eine Atempause, bis die sozialistische Revolution in West-Europa, vor allem in Deutschland, mit voller Wucht ausbreche – die Bolschewiken waren fest überzeugt, daß die europäische Revolution sehr bald kommen würde. Die russischen Revolutionäre betrachteten sich in dieser ersten Phase als eine Art Vortrupp der Weltrevolution; ihre Aufgabe sahen sie darin, durch die Ausübung der sozialistischen Staatsgewalt in Rußland die Flagge zu halten, um sie später an die erfahreneren Genossen im Westen weiterzureichen.

Die mehr oder weniger freundliche Atmosphäre der Vorverhandlungen änderte sich schlagartig mit dem Beginn der eigentlichen Friedensverhandlungen am 7. Januar 1918, als Trotzki die Führung der russischen Delegation übernahm. Wie die deutschen Teilnehmer berichteten, hat der Volkskommissar gleich am Anfang die Einladung des Prinzen Leopold „kühl abgelehnt“ und alle Vertraulichkeiten untersagt. Er forderte, daß den Delegierten die Mahlzeiten in ihrem Quartier serviert würden und verbot jeden privaten Kontakt und jede gesellschaftliche Unterhaltung. Es ist anzunehmen, daß Trotzki bereits mit dem fertigen Entschluß gekommen ist, die Verhandlungen abzuwürgen. Erstens waren die deutschen Forderungen in der Tat unverhältnismäßig: Rußland sollte ca. 170 Tausend Quadratkilometer seines Territoriums hergeben, eine gigantische Kontribution zahlen usw., während die Bolschewiki nach wie vor auf der Parole bestanden „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“. Zweitens sind die späteren Behauptungen Trotzkis durchaus glaubhaft, keiner in der bolschewistischen Führung habe Einwände gegen seine Absicht angemeldet, die Gespräche von Brest bei passender Gelegenheit zu sprengen; alle waren der Meinung, das europäische, in erster Linie das deutsche, Proletariat würde nicht zulassen, daß der proletarischen Revolution in Rußland ein Schaden zugefügt wäre.

Trotzkis Geduld platzte, als die Mittelmächte am 9. Februar 1918 einen „Sonderfrieden“ mit dem ukrainischen Marionettenregime von Skoropadski geschlossen haben, dessen Amt und Würde auf den deutschen Bajonetten ruhte. Im Grunde genommen haben die Mittelmächte diesen „Sonderfrieden“ unter sich ausgehandelt, wobei das Territorium des virtuellen ukrainischen „Staates“ bis ans Kaspische Meer reichen sollte. Am nächsten Tag brach Trotzki die Verhandlungen ab. Er erklärte unter anderem: „Wir ziehen uns vom Krieg zurück. Wir verkünden das allen Völkern und Regierungen. Wir geben den Befehl zur vollen Demobilisierung unserer Armeen heraus. […] Gleichzeitig erklären wir, daß die uns von den Regierungen von Deutschland und Österreich-Ungarn vorgeschlagenen Bedingungen in fundamentalem Widerspruch zu dem Interesse aller Völker stehen. […] Wir weigern uns, Bedingungen zu unterschreiben, die der deutsche und österreichisch-ungarische Imperialismus mit dem Schwert auf den lebendigen Körper der Völker schreibt. Wir können nicht die Unterschrisft der russischen Revolution unter einen Friedensvertrag setzen, der Millionen menschlicher Wesen Unterdrückung, Leid und Unglück bringt“.

Die von Trotzki proklamierte These „Weder Krieg, noch Frieden!“ wäre für Deutschland im Prinzip akzeptabel gewesen, wenn Berlin wirklich die Konzentration aller vorhandenen Kräfte auf der Westfront im Auge hätte. Richard von Kühlmann, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und Graf Ottokar Czernin, Außenminister von Österreich-Ungarn, die in Brest die diplomatische Aufsicht über das Geschehen ausübten, waren der Meinung, man könne im Osten ruhig die Situation „Weder – noch“ akzeptieren, denn von Rußland wäre noch lange Zeit keine militärische Bedrohung zu befürchten. Jedoch die Oberste Heeresleitung mit Einverständnis des Reichskanzlers und des Kaisers befahl die Offensive auf der ganzen russischen Front, die am 18. Februar auch begann. Nun gewan der Ostfeldzug einen ausgesprochen siegreichen Charakter. General Max Hoffman, alter Mitarbeiter Erich Ludendorffs, sprach damals vom „komischsten Krieg, den ich kenne. Er findet fast ausschließlich in Zügen und Automobilen statt. Wir setzten eine Handvoll Infanterie mit Maschinengewehren und einer Kanone in einen Zug und schicken sie zur nächsten Bahnstation; sie nimmt diese ein, macht unter den Bolschewiken ein paar Gefangene, greift noch ein paar Soldaten auf und fährt weiter. Jedenfalls hat dieses Vorgehen den Reiz des Neuen“.

Bereits am 19. Februar haben die Sowjets ihren Fehler eingesehen und baten um den Frieden zu x-beliebigen Bedingungen. Das Deutsche Reich hatte aber keine Eile. Auch die Unterzeichnung des Vertrages von Brest am 3. März bedeutete nicht, daß die Deutschen überall die Krieghandlungen einstellten. Baltische Provinzen Rußlands, finnische Autonomie und die Ukraine – deutsche Soldaten operierten überall weiter. Im April wurde die Krim besetzt. Seit Juni wurden deutsche Truppen, darunter eine bayerische Kavalleriebrigade und bayerische Jäger, von Sewastopol aus über das Schwarze Meer nach Georgien gebracht, dessen Regierung mit ihrer leidenschaftlich umstrittenen Legalität sehr passend das Reich um Schutz gebeten hatte. Der bayerische Generalmajor Kreß von Kressenstein wurde zum Oberbefehlshaber der deutschen Truppen im Kaukasus ernannt. Das eigentliche Ziel, nämlich Erdölfelder von Baku, konnte jedoch infolge der Novemberrevolution in Deutschland nicht mehr erreicht werden. Danach wurden die deutschen Truppen zurückbeordert. Eine Ausnahme blieb das Baltikum – dort setzten die Freikorps die Kampfhandlungen fort.

Die Diskussionen an der Spitze der bolschewischen Partei um das weitere Vorgehen in Brest sind hinlänglich bekannt. Die Forderung der linken Kommunisten um Nikolai Bucharin, man beginne nach dem Muster der Großen Französischen Revolution einen revolutionären Krieg gegen Deutschland, mußte abgelehnt werden, da zu einem Krieg eine Armee gehörte, die noch gar nicht existierte. Am 23. Februar 1918 erfolgte zwar das Dekret zur Schaffung einer Roten Arbeiter- und Bauernarmee, aber zur Bildung kampftüchtiger Verbände stand noch ein langer und schmerzlicher Weg bevor. Der Abschluß eines Friedensvertrages um jeden Preis war als unvermeidlich eingestuft, auch auf die Gefahr hin, daß er das Reich keinesfalls behindern würde, nach Belieben Kampfhandlungen fortzusetzen. Parallel wurde beschlossen, Regierung und Parteiführung aus dem bedrohten Petrograd (so hieß Petersburg ab August 1914) nach Moskau zu überführen. Im Inneren des Landes durfte die Sicherheit vor dem deutschen Zugriff etwas größer sein. Am 12. März 1918 hat Petrograd aufgehört, die russische Hauptstadt zu sein.

Es folgen einige Auszüge aus dem Kriegstagebuch des Prinzen Leopold, die ein beredtes Zeugnis von den Ereignissen um Brest herum ablegen.

25. Februar [1918]. +2°. Nebelig und feucht, öfters Regen. Der russischen Regierung ist unser Vormarsch, der ihre militärische und politische Situation täglich verschlechtert, entschieden unerwartet gekommen. Ich glaube, sie hatten bei ihrer Erklärung «Der Krieg sei aus» geglaubt, wir würden untätig bleiben und die Revolution werde zugleich bei uns ausbrechen. Nun war ihnen Angst geworden und [sie] verlangen stürmisch, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Ihre Deputation war von Petersburg abgereist, fürchtete sich aber vor ihren eigenen Leuten und traute sich nicht über unsere Linien zu kommen.

26. Februar. – 1°. Ein schöner sonniger Tag bei kühlem Westwinde; der Schmutz nahm wieder zu. Wohl infolge der in Rußland herrschenden Unordnung scheinen neben dem Munitionsmagazin bei Pleskau große Blöcke von Dynamit an der Straße gelegen zu haben. Durch Unvorsichtigkeit unserer Leute, welche dieselben für die lange entbehrte Seife hielten, flog mit diesen Dynamitbrocken das ganze Magazin in die Luft. Nahezu zwei vollständige Kompanien, die eben vorbeimarschierten, fielen der Explosion zum Opfer. So wenigstens wird der Vorgang vermutet. Der Vormarsch auf Orscha geht fort, Polozk wurde genommen. Die russische Deputation hat unter dem Schutz unserer Truppen Pleskau in der Richtung auf Brest verlassen.

28. Februar. 0°. Schöner Morgen; der Schmutz nimmt immer noch zu. Im Norden sind unsere Truppen bis nahe an Narwa gelangt, Reschitza wurde gestürmt. Im Süden ist die bayerische Ulanenbrigade bis nahe an Kiew herangekommen. Die Russen sind endlich nachmittags in Brest angekommen.

1. März. + 2°. Warmer windstiller Vorfrühlingstag. Die Krähen begannen um ihre Horstplätze zu streichen. Fast ganz Estland ist nunmehr von uns eingenommen. In Dünaburg und Pleskau sind ganz außerordentlich große Heeresvorräte und Magazine sowie eine noch nicht zählbare Menge von Geschützen und Munition in unsere Hände gefallen. Das Ultimatum an Rumänien ist abgegangen. Heute war die erste Sitzung der Friedenskonferenz. Die Russen nehmen alles resigniert an ohne zu reden.

2. März. + 1°. Ein milder Tag bei Ostluft. Lenin und Trotzki funken in alle Welt auf das Feindseligste gegen uns und warten demgemäß nur auf eine günstige Gelegenheit um Revanche zu nehmen. Kiew ist bereits z.T. genommen. Bei Narwa schanzen die Russen. Da die Russen morgen nachmittag den Frieden unterschreiben, so lasse ich morgen Mittag 1 Uhr den Vormarsch und die Feindseligkeiten einstellen. Abends telegraphierte General Ludendorff, daß Rumänien unsere Friedensbedingungen annahm. Somit wäre Friede auf der ganzen Ostfront. Mit starken Bandenunruhen in Rußland, vor allem aber in der Ukraine, ist bestimmt zu rechnen.

3. März. Sonntag. 0°. Herrlicher Vorfrühlingstag. Fand schon einen jungen Hasen. Morgens wurden noch einige Bomben auf Petersburg abgeworfen, was leider nicht mehr zu verhindern war. Übrigens fanden auch ziemlich heftige Kämpfe bei Narwa und bei Pleskau statt. Auch in Kiew wurde gekämpft, bayerische Ulanenbrigade war dabei beteiligt.

Friedensschluß mit Rußland. Um 5 Uhr nachmittags wurde der Friede mit Rußland unterzeichnet. Abends in meinem Kasino nahmen alle Diplomaten und Staatsmänner mit Ausnahme der Russen an unserem immerhin einfachen, aber festlichen Friedensdiner teil. Natürlich mußte ich wieder eine kleine Tischrede halten, die mit einem Hurrah auf die verbündeten Souveräne ausklang. Ein welthistorischer, denkwürdiger Tag war zu Ende gegangen. Frohe Hoffnung und Erwartung erfüllte unsere Soldatenherzen. Der Friede von Brest-Litowsk sollte unserer Meinung nach ein Wendepunkt in der Weltgeschichte sein“.

Gewissermaßen wurde die deutsche Schöpfung von Brest in der Tat zu einem Wendepunkt der Geschichte des Ersten Weltkrieges – aber nicht ganz im Sinne des Prinzen Leopold. 

Folgen von Brest

In seiner Endfassung war der sogenannte Friedensvertrag von Brest ein nahezu klassisches Beispiel der deutschen Imperial- und Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts. Östlich der Reichsgrenzen entstand auf deutsches Geheiß ein Kolonialimperium von mehreren kleinen Scheinstaaten, die nur eins wußten – dem Willen des Berliner Herrn zu gehorchen. Es war anzunehmen, daß Rußland als Einflußzentrum in dieser Region auf lange Sicht ausgeschaltet wurde. Die Degradierung Rußlands wurde nicht aus weltanschaulichen, sondern aus rein geostrategischen Erwägungen verfolgt. Die Tatsache, daß Rußland zu einem Exponenten der Ideologie und Praxis radikaler kommunistischer Überzeugungen geworden ist, spielte bloß die Rolle einer zusätzlichen Rechtfertigung für die Anwendung der Gewalt durch die deutschen Besatzungsbehörden. Denn das östliche Kolonialimperium des Reiches könnte nur Bestand haben, wenn Rußland als ein ernstzunehmender Machtfaktor ausfiel.

Der Vertrag von Brest sah vor, daß das künftige Schicksal der russischen „Randgebiete“ (gemeint waren Polen, Finnland, baltische Provinzen, die Ukraine, Transkaukasien und andere Territorien nach dem Gutdünken des Siegers) ausschließlich von Deutschland und seinen Verbündeten entschieden werden sollte. Auch die vom Reich besetzten Territorien, die zum historischen Kerngebiet Rußlands gehörten, durften erst nach der Schließung des allgemeinen Friedens und der endgültigen Auflösung sowohl der alten russischen Streitkräfte, als auch der neuen revolutionären Armee geräumt werden. Der Wert der Forderung nach der vollständigen Abrüstung Rußlands konnte richtig eingeschätzt werden, wenn man gleichzeitig den aufkommenden Bürgerkrieg im Lande in Betracht zog. Die Kontribution, die Rußland zu zahlen hatte, wurde mit 6 Milliarden Gold-Reichsmark beziffert, was die Möglichkeiten des Landes bei weitem übertraf. Darüber hinaus war das Reich berechtigt, diese Summe einseitig nach Belieben zu erhöhen. Der Vertrag enthielt auch andere Klauseln, die jederzeit erlaubt hätten, das Tor zur Wiederaufnahme der Kriegshandlungen auf der legalen Basis zu öffnen.

Den Nebel über genaue Absichten der deutschen militärischen Führung inbezug auf Rußland könnte die folgende Episode lichten. Der Oberbefehlshaber Ost wollte nach dem Abschluß des Vertrages von Brest um Enthebung von seiner Stelle bitten. General Hoffmann redete das dem Prinzen Leopold aus, indem er sagte: „Wenn auch in Beziehung Truppenführung kaum noch wichtige Entschlüsse zu fassen sein werden, so gäbe es einerseits militärisch noch immer viel zu tun. Eine große und wichtige Aufgabe sei es nämlich, die ganze Verwaltung des besetzten Gebiets nach und nach auf den Friedensfuß überzuführen und die politische Gestaltung desselben zu leiten und zu überwachen. Dies würde wohl noch Jahre in Anspruch nehmen und das Ganze müsse jetzt noch in einer Hand bleiben“. Worauf der Prinz auf seine Idee verzichtete. 

Es wäre keine Übertreibung festzustellen: Wenn es nicht zur deutschen Niederlage im Westen im Herbst 1918 gekommen wäre, hätte es noch schwieriger werden können, als es in Wirklichkeit war, Rußland als einen selbständigen Staat zu erhalten. Dank den Denkschriften von namhaften deutschen Rußland-Experten aus der Vor- wie auch aus der Kriegszeit besteht die Möglichkeit, die Pläne zu rekonstruieren, mit deren Hilfe man im Reich die vollständige Eliminierung des größten europäischen Landes besiegeln wollte. Das Schrecklichste an diesen Plänen war die Tatsache, daß sie später im Maßstab eins zu eins von den nazistischen Ideologen übernommen worden sind.

Im Bayerischen Staatsarchiv sind unter dem Jahr 1916 zwei solche Denkschriften zu sichten. Die erste stammt aus dem Feder des einflußreichen Baltendeutschen Silvio Broederich-Kurmahlen und ist programmatisch „Das neue Ostland“ betitelt. Als Motto hat der Verfasser bezeichnenderweise altes flämisches Lied gewählt: „Nach Ostland wollen wir reiten“. Mit Inbrust und Verve versucht er im Namen „der eingeborenen Deutschen des großen neuen Ostlandes“ einige unverholen straßenräuberische Thesen in den Raum zu stellen. Die wichtigsten darunter sehen wie folgt aus: (1) Der eigentliche Feind Deutschlands wäre immer Rußland: „Der abgrundtiefe Unterschied asiatisch-mongolischer und europäischer Kultur trennt den Germanen vom Moskowiter – da gibt es keine Verständigung! Mit unseren westlichen Feinden dagegen ist doch eine Verständigungsmöglichkeit in der gleichen Kultur vorhanden… […] Ist das Meer freigekämpft, so können wir mit England in Ordnung kommen, mit Rußland gibt es nie Verständigung – das ist der Unterschied“; (2) Rußlands Krieg gegen das Reich sei sittenwidrig: „Wir dürfen nicht vergessen, den Krieg führt Rußland als Rassekrieg – es wollte nicht nur die Weltherrschaftstellung in Europa erkämpfen, nicht nur sich Ostdeutschland angliedern, sondern vor allem den deutschen wirtschaftlichen Einfluß in Rußland brechen. […] Der Haß gegen alles Deutsche ist in allen Kreisen des Volkes so abgrundtief, daß dieser Krieg naturgemäß zur Vernichtung alles deutschen Elements in Rußland führen mußte“; (3) Die Ostsee gehöre fest in deutsche Hand: „… die Ostseehäfen [sind] Ausfuhrhäfen für das unendliche Gebiet bis zum Baikalsee. Darin liegt die gewaltige Bedeutung des Osthandels. Ein ‚totes Wasser’ ist die Ostsee für die deutsche Handelswelt nur, wenn es nicht die ganze Ostsee beherrscht. Ist die Ostsee aber der germanische Binnensee geworden, dann ist sie der Schauplatz unermeßlicher wirtschaftlicher Entwicklung deutschen Welthandels“; (4) Dafür „müssen Litauen und die Ostseeprovinzen an das Deutsche Reich kommen und damit dieser ältesten Kolonie Deutschlands der Lohn für die Treue werden, mit der sie Jahrhunderte lang ihre Kultur gehütet. Es ist tief bedauerlich, daß man in den Schulen des Reiches die Buben und Mädchen nicht gelehrt hat, daß von Polangen hinter Memel bis Narwa vor Petersburg die deutschen Balten hausen und das weite Land in deutscher Treue hüten“; (5) Dadurch würden auch die akutesten sozialen Probleme der Reiches gelöst: „… diese Ausbreitung der nationalen Macht gibt die vollkommene Gewähr, daß wir in aller Zukunft unabhängig unsere Ernährung in eigener Reichsgrenze schaffen können und Siedelungsland zur Verfügung haben, auf dem uns eine Bauernbevölkerung erstehen muß, die in großartiger Weise unser Volkstum stärkt und ausbreitet“; (6) Die Russen verdienten eine strenge Behandlung, da auch ihre Oberschicht durchweg asiatisch wäre: „Sie alle sind demagogische Demokraten; zwischen reaktionärer Willkür und revolutionärem Demagogentum schwanken sie hin und her, eine entsittlichte, verdorbene Masse, in der deutlich der vorherrschende mongolische Bluteinschlag zum Vorschein kommt, der in allen russischen Adelsgeschlechtern aus der Zeit des mongolischen Joches stammt, denn viele, vielleicht die meisten von ihnen sind später russifizierter tatarischer Adel, im Osten Rußlands fast alle“; (7) Im Krieg gegen Rußland erfülle das Reich seine europäische Mission: „Im Osten kämpft das deutsche Volk auch für die Zukunft und Erretung unserer Feinde im Westen, denn der Untergang Deutschlands würde der gesamten Kultur Westeuropas die russische Abhängigkeit bringen“; (8) Es fehlte sogar die Anklage nicht, Rußland pflege „kommunistische Landbenutzug“ durch „kommunistische Bauerngenossenschaften“, wie Broedrich-Kurmahlen die überlieferte Form der Organisation des russischen Dorflebens (Bauerngemeinde) qualifizierte.

Die Denkschrift von Prof. Dr. Friedrich Lezius aus Königsberg, die den Vermerk „Vertraulich“ trägt, könnte als eine Weiterführung und praktische Anweisung zur Realisierung der theoretischen Ausführungen von Broederich-Kurmahlen verstanden werden. Für Herrn Professor war absolut klar, daß Rußland überhaupt nicht bestehen dürfe – es müsse auf das Gebiet um Moskau reduziert werden und von da an Moskowien heißen. Die Grundthese von Lezius lautete: „Der Fortbestand des russischen Weltreiches in seinem jetzigen Umfang ist mit unserer Sicherheit nicht verträglich. Bleibt es weiter bestehen mit seinen etwa 170 Millionen, die sich jährlich um 3 Millionen vermehren, so ist es nach 10 Jahren 200 Millionen und im Jahre 2000 gewiß 400 Millionen stark und wird uns bequem erdrücken können, wie Kriegsminister Kuropatkin erhoffte“. Und weiter: „Um das vom Welteroberungswahn besessene Russenreich für uns unschädlicher zu machen als es ist, müssen wir es durchsetzen, daß es die Grenzgebiete verliert. Sie müssen an uns und unseren Verbündeten fallen oder selbständig werden“.

In erster Linie bedeutete dies die Selbständikeit der Ukraine, was freilig nicht so buchstäblich verstanden werden brauchte. Lezius betonte: „… eine befreite und selbständige Ukraine [muß] in dem eroberungslustigen Moskowien ihren Todfeind sehen, gegen dessen drohende Macht es allein bei den mitteleuropäischen Kaiserreichen Schutz finden könnte“. Dieser deutschhörigen Ukraine sollten dann die Territorien im Norden bis Lublin und Brest und im Süden bis an den Kaukasus zugeteilt werden. „Schlägt man zur Ukraine [noch] das Gebiet der großrussischen Donkosaken, so würde Moskowien durch den Ukrainerstaat vom Schwarzen Meer ausgeschlossen werden“, sinnierte Lezius. 

Ein von Rußland abgetrenntes Finnland wäre auch zu vergrößern – zu ihm sollten Teile des Gouvernements Archangelsk „samt der kupfer- und kohlenreichen Halbinsel Kola und der eisfreien Murmanküste [kommen] und womöglich auch das Gouvernement Olonetz mit seinen Erzlagern“. Die Folge wäre klar: „Natürlich müßten wir den Schutz Finnlands übernehmen und durch eine Militärkonvention dafür sorgen, daß die Finnen militärisch nicht ebenso verkommen wie die Schweden, denn das wäre ihnen und uns wenig zuträglich“.

Die restlichen Randgebiete Rußlands sollten abgetrennt, dennoch nicht selbständig gemacht werden. „Der Kaukasus müßte an die Türkei fallen“, plante Lezius, wobei „es dann in unserem Interesse läge, ihr den Besitz des Kaukasus gegen moskowitische Angriffe zu sichern“. Den polnischen Staat wiederherstellen „wäre eine tödliche Gefahr für uns“, meinte Lezius und forderte: „Mag Österreich Südpolen als Beuteanteil bekommen, aber Nordpolen [mit Warschau] muß für immer bei Deutschland bleiben“. Dasselbe galt für das Baltikum: „Ebenso sind litauische und baltische Pufferstaaten eine schädliche Halbheit“ – „Wir müssen diese Gebiete im Interesse unserer Sicherheit und Zukunft erobern und mit fester Hand als unterworfene Provinzen nach dem Vorbild der Römer regieren“, schrieb Lezius. „Das weißrussische Gebiet“ verdiene keinen eigenen Staat, „da es (1) sich doch an das glaubensverwandte Moskau anlehnen würde und (2) weil wir dieses Land zur Unterbringung unserer Siedler in Zukunft brauchen werden“, unterstrich der Königsberger.

Auch wenn im Westen zu einem „faulen Frieden“, das heißt zu einem Kompromißfrieden mit den Westmächten, kommen sollte, habe das Reich seine „Ostflanke freizumachen“. Lezius präzisierte: „Das können wir, wenn wir Rußland völlig von der Ostsee ausschließen und unsere Grenze an den Wolchow und Dnjepr verlegen. Ist Finnland ein eigener Staat unter unserem Schutze und sind Libau und Kronstadt deutsche Kriegshäfen geworden, so gibt es auch keine russische Ostseeflotte mehr, die mit England im Bunde uns bekriegen könnte. Wie Amsterdam und Rotterdamm kraft der Gunst ihrer Lage den deutschen Rheinhandel monopolisieren, so würden Riga und Petersburg in deutscher Hand den Handel zwischen Moskowien und Westsibirien einerseits und England-Frankreich andererseits an sich reißen. Keine Macht der Erde könnte die Macht des deutschen Handelseinflusses in Rußland brechen“.

Um die Zahlung der „Kriegsentschädigung in Gold und Goldeswerten“ durch Rußland zu sichern, schlug Lezius vor, Petersburg zu besetzen und die Stadt erst dann an Rußland zurückzugeben, wenn die nötige Summe in den deutschen Kassen eingelaufen ist. Er schrieb: „Rußland kann gut und viel zahlen, wenn es sein Heer auf ein Viertel herabsetzt. Zahlt es alljährlich 2 Milliarden, so kann es nach 30 Jahren Petersburg zurückbekommen. Es müßte aber darauf verzichten, eine Kriegsflotte auf der Ostsee zu unterhalten“. 

Der Königsberger Stratege hielt auch fertige Rezepte für die Behandlung der Bevölkerung in den eroberten Gebieten parat. Er führte aus: „Warum sollen wir nicht es vermögen, mit Polen, Litauern usw. fertig zu werden? Wir werden es sehr gut zustande bringen, wenn wir diesen Untertanenvölkern die Gleichberechtigung vorenthalten und sie nach dem Vorbilde des größten Eroberervolkes beherrschen. Die Römer regierten die unterworfenen Provinzialen durch Prokonsule mit diktatorischer Gewalt, verzichteten aber auf jeden Sprachenzwang und gewährten ihnen eine weitgehende Autonomie. Sie überließen es den Unterworfenen, sich selbst zu romanisieren. […] Auch die Freizügigkeit der Unterworfenen muß auf ihre Gebiete beschränkt bleiben. Wir müssen unsere heutige Grenze gegen die Überflutung durch die rückständigen Ostjuden schützen. Ihnen ist die Abwanderung nach Berlin zu verbieten. Eine Anzahl polnischer und anderer Wanderarbeiter werden wir nicht entbehren können und darum zulassen müssen. Anderen werden wir es nicht verwehren können, bei uns als Arbeiter usw. ganz wohnhaft zu werden. Nur müssen wir dafür sorgen, daß sie sich nicht das Reichsbürgerrecht erschleichen“.

Die wenigsten Schwierigkeiten erwartete Lezius mit Letten und Esten. Er prophezeite: „In etwa zwei Menschenaltern werden die Ostseeprovinzen durch freiwilliges Germanisieren der Letten und Esten eingedeutscht sein und können als gleichberechtigte Provinzen zu Preußen geschlagen werden, auch mit dem Wahlrecht für Reichstag und Landtag versehen werden“. Aber die Masse der anderen Einwohner mußte „weggeschafft“ werden. Als die beste Methode dafür empfahl Herr Professor die Säuberung des Territoriums: „Neudeutscher Grundsatz ist es geworden, daß Landnahme ohne Übernahme der Leute berechtigt ist, schon um uns das unentbehrliche Siedelungsland zu verschaffen, das wir brauchen, wenn wir nicht umkommen sollen in der qualvollen Enge des jetzigen Kleindeutschlands“. Lezius forderte, eine Regelung in den bevorstehenden Friedensvertrag mit Rußland einzubauen, die dem Reich erlaubt hätte, die Bevölkerung aus den besetzten Gebieten, einschließlich „politisch unbequeme Elemente“, nach Osten, genauer nach Sibirien, abzuschieben – natürlich im Sommer, was selbstverständlich viel humaner wäre, als im Winter.

Die angeführten Zitaten sind berufen zu belegen, daß der national-sozialistische Wahnsinn nicht aus dem Nichts gekommen ist – alle Bestandteile seiner „Theorien“ sowie seiner praktischen Mörderprogramme waren in den maßgeblichen Kreisen Deutschlands bereits vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges vorhanden. Der Nazismus darf nicht als eine unbegreifliche Entgleisung der deutschen Geschichte interpretiert werden, er war vielmehr ihr Produkt, wenigstens das Produkt der unter den deutschen Politikern sehr verbreiteten Denkweise. Nicht die Niederlage von 1918, nicht die „Schmach von Versailles“ haben den Geist des Nazismus aus der Flasche herausgelassen – er war in Deutschland lange vor 1918 und Hitler da. Vielmehr war Hitler sein Produkt. Die Bestimmungen des Vertrags von Brest bedeuteten nichts mehr und nichts weniger als den ersten Anlauf zur Realisierung dieser aberwitzigen Pläne, ein neues Kolonialreich im Osten Europas aufzubauen. Was im Vertragstext stand und was mit diesem Text gemeint sowie durch ihn möglich gemacht wurde – alles war auf dieses Ziel zentriert. Zugegeben – der zweite Versuch unter Hitler fiel noch barbarischer aus, aber das verklärt Brest nicht.

Das Unrecht bringt kein Glück. Die Knechtschaftsbedingungen des Vertrags von Brest haben der ganzen Welt vor Augen geführt, was das Deutsche Kaiserreich mit den Unterlegenen vorhat. Das Resultat war Mobilisierung des Westens, der sich mit dem Mut der Verzweiflung dem letzten schicksalhaften Zweikampf mit Deutschland stellte. Aber weil die Eroberungen Soldaten brauchten, weil eroberte Gebiete bewacht werden mußten, was wiederum Soldaten erforderte – fehlten dem Reich bei den entscheidenden Schlachten der Endphase des Krieges im Westen die Soldaten, die im Osten bleiben mußten. 

Das Deutsche Kaiserreich hat Brest nicht überstanden. Am 11. November 1918, acht Monate nach der Unterzeichnung des Vertrages, brach es zusammen. Zwei Tage später, am 13. November 1918, hat Sowjet-Rußland den Vertrag von Brest annuliert. (Die Bolschewiken haben wenigstens teilweise recht behalten – die rote Fahne über dem Winterpalais hat die deutsche Revolution in der Tat ermutigt). Die Strenge des Diktatfriedens von Versailles wurde auch durch die Härte des Diktatfriedens von Brest motiviert. Die Leichtigkeit, mit der die deutsche Armee damals die Leiche des Russischen Kaiserreichs sezierte, rief den falschen Eindruck, daß die Deutschen im Osten jederzeit alles tun können, was sie wollen. „Mein Kampf“ ist in diesem Sinne eine Emanation von Brest.

Gleichzeitig wäre es ein Irrtum zu glauben, daß das Brest-Syndrom ausschließlich das deutsche Phänomen wäre. Die Entente-Mächte haben mit ihren Interventionen 1918 und später bewiesen, daß ein einiges und starkes Rußland recht wenig Sympathie bei den Regierenden im Westen nach dem Kriegsende genoß. Wer hat damals nicht versucht, Rußland noch tiefer fallen zu lassen, als es ohnehin im Laufe des Bürgerkrieges gefallen ist! Briten, Franzosen, US-Amerikaner, Japaner, Tschechen, Polen, auch deutsche Freikorpsangehörige – alle waren da, alle haben ihre Hand an das nationale Unglück der Russen angelegt. Es grenzte schon an einen Wunder, daß das Land dieses Grauen ohne lebensgefährliche Schäden überstanden hat. Erst als Rußland wieder voll da war, kam 1922 der erste gleichberechtigte Vertrag – der Vertrag von Rapallo – und danach allgemeine diplomatische Anerkennung Sowjet-Rußlands im Jahre 1924. Seit 1918, das heißt seit Brest, ist das Problem der Sicherheit des Landes zur alles beherrschenden Sorge der russischen Außen- wie Innenpolitik geworden, ganz gleich welche politische Strömung Oberhand in seiner Führung gewann.

Gespenst von Brest

Die Desintegration der Sowjetunion 1991 war nicht ohne Ähnlichkeit mit dem Zusammenbruch des Russischen Kaiserreiches 1917, aber direkte Parallelen wären fehl am Platze. Manche Strategen im Westen meinten, sie hätten den Kalten Krieg gewonnen und sich sogar funkelnagelneue Siegesmedaillen an die Brust geheftet, jedoch ein Weltkrieg war Gott sei Dank nicht da. Viele Nutznießer der Katastrophe der Sowjetunion haben versucht, den Ausverkauf des Staatseingentums für eine Revolution auszugeben, aber eine genuine Revolution war da weit und breit nicht zu sehen. Der Bürgerkrieg konnte gleichermaßen vermieden werden, wenn auch so etwas wie Bürgerkriegsansätze mit dem Zusammenschießen des Parlamentsgebäudes 1993 oder mit der Terroristenherrschaft in Tschetschenien vorhanden waren. 

Das Auseinanderfallen der Union war meistens das Werk der kommunistischen Landesfürsten, die in der Atmosphäre allgemeiner Auflösung und Unsicherheit nach der vom Zentrum unabhängigen Macht lechzten. Es kann nicht als Zufall abgetan werden, wenn die Masse der russischen Bevölkerung die Schuld am Untergang der Sowjetnion nicht so sehr Boris Jelzin ankreidet, der diesen Vorgang dokumentierte, sondern Michail Gorbatschow, der politische und wirtschaftliche Voraussetzungen dafür schuf. In welchem Umfang genau die ausländischen Geheimdienste den Prozeß der Selbstverstümmelung Rußlands vorantrieben, läßt sich heute kaum feststellen, aber die Tatsache ihrer äußerst aktiven Einflußnahme auf die Ereignisse selbst steht außer Zweifel.

Im Endeffekt war das Resultat der Teilung des Landes mit den Ergebnissen von Brest durchaus vergleichbar. Die westlichen und südlichen Grenzen Rußlands wurden fast haargenau auf den Zustand des 17. Jahrhunderts zurückgeworfen. Die Mehrheit der Bevölkerung vegetierte unter dem Existenzminimum. Die neuen Ideologen propagierten die These, Rußland brauche keinen Staat, da der Markt alles viel besser regeln würde. Um so weniger, sagten sie weiter, brauche Rußland eine Armee, da es in der Welt ausschließlich Freunde habe. Die Armee war ohne Geld, Soldaten oft ohne Sold geblieben, entmutigt und desorientiert, ihre Stellung in der Gesellschaft untergraben. Die Truppen übten nicht, die Flieger flogen nicht, die Flotten blieben in den Häfen.

Dementsprechend wurde die Rüstungsindustrie abgewürgt wie auch die übrige Industrie und zugleich die Landwirtschaft. Nur die Erdölförderung blieb intakt, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau, als zu den Sowjetzeiten. Das war aber ein schwacher Trost, denn Erdölgewinn und –transport wurden privatisiert und ihre Gewinne füllten nicht die Staatskasse, sondern die Taschen der neuen Eigentümer aus der gestrigen Nomenklatura. Wie ein Wunder wirkte, daß der Erdgaswirtschaft die Übernahme durch gierige Neureiche erspart blieb, aber auch Gewinne aus diesem Wirtschaftsbereich sich auf unerklärliche Weise in der Luft auflösten. 

Das totgeborene Schema einer Gemeinschaft Unabhängiger Staaten führte zu widernatürlicher Situation, wo die ehemaligen Teile der Sowjetunion einerseits über Vorrechte von souveränen Staateswesen verfügten und oft den Kurs verfolgten, der den russischen Interessen in die Quere kam, und andererseits die Vergünstigungen in Anspruch nahmen, die für die Bestandteile der Russischen Föderation aufrechterhalten wurden. Das Land lebte auf Pump, mußte bei jeder Kreditbewilligung weitreichende Zugeständnisse zum Schaden der inländischen Produzenten machen. Es erlebte mehrere finanzielle Krisen bis hin zum Staatsdefault von 1998. Von einer innenpolitischen oder außenpolitischen Stabilität konnte keine Rede sein.

Trotz allen Unerfreulichkeiten der neuen Situation gab es ursprünglich positive Voraussetzungen für gutnachbarliche Beziehungen Rußlands mit dem Westen. Das größte Hindernis war endlich weg – die ideologische Gegenüberstellung war aufgehoben; Rußland gab die Absicht auf, die Welt zu bekehren; beide Seiten streuten dem Markt Weihrauch; die neue obere Schicht Rußlands suchte den Anschluß an den Westen. Auch die breite Masse der Bevölkerung glaubte, mit dem Hinauswurf von „Anhängseln“ (das heißt der Unionsrepubliken, die allesamt auf Zuschüßen aus Rußland lebten) aus dem gemeinsamen Staat wäre eine feste Grundlage für ein glücklicheres Leben geschaffen, das man gemeinsam mit dem prosperierenden Westen aufbauen könnte. Praktisch streckte das ganze Rußland, Regierende wie Regierte, die Freundeshand aus, um mit den Rivalen von gestern ein besseres Europa, eine bessere Welt aus der Taufe zu heben. Die offensichtliche Schwäche Rußlands war eine zusätzliche Garantie, daß aus dieser Ecke keine Unannehmlichkeiten entstehen könnten.

Jedoch die Rivalen von gestern zogen die Verewigung der russischen Schwäche vor. Die Welt, vor allem die westliche Welt, begann die Abwesenheit Rußlands von der großen europäischen und internationalen Bühne auszukosten. Es fehlte nicht an äußerlichen Zeichen des Wohwollens. Boris Jelzin wurde zum Beispiel in den politischen Tell von G-8 aufgenommen; unter Putin wurde Rußland zum Vollmitglied dieser Gruppierung. Konkreten Nutzen für Rußland brachte diese Geste nicht. Als Rohstofflager und –lieferant ohne eigenen Willen hätte Rußland vom Westen im Prinzip akzeptiert werden können. Jedoch auch das genügte ihm offenbar nicht. 

Ohne jegliche Provokation russischerseits begann die NATO ihren Marsch gen Osten, zur Grenze Rußlands, wobei als Initiator dieses Marsches das vereinte Deutschland auftrat – das Land, um dessen Freundschaft willen die Gorbatschowsche Sowjetunion die meisten geostrategischen Opfer gebracht hat. In den Nachbarstaaten Rußlands fanden nacheinander „farbige Revolutionen“ statt, die mit einer offenen Hilfe des Westens Gruppierungen an die Macht brachten, die sich durch eine ausgesprochen rußlandfeindliche Einstellung auszeichneten. Die USA haben den Vertrag über den Raketenschutz aufgekündigt, der die einzig mögliche Sicherheit der nuklearen Epoche festschrieb: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“. Washington begann an einem System des Raketenschutzes zu basteln, das Amerika von jeder Gefahr des Vergeltungsschlages befreien sollte. Wer aber sich unverwundbar in einer Welt wähnt, wo andere ihm ausgeliefert sind, der kann der Versuchung unterliegen, allen seinen Willen zu diktieren. Jetzt ist bereits die Rede davon, daß die Basen der Killerraketen in unmittelbarer Nähe zu den Grenzen Rußlands entstehen sollten. Das sollte in Perspektive praktische Entwaffnung Rußlands zur Folge haben.

Gleichzeitig verbreiten sich im Westen die Theorien, nach denen es nicht akzeptabel wäre, die Bodenschätze der Erde im Besitz einzelner Staaten und nicht der Menschheit im ganzen zu belassen. Es ist nicht schwierig zu erraten, wer gegebenenfalls diese Menschheit vertreten und in ihrem Namen die „entprivatisierten“ Naturschätze verwalten würde. In Rußland ist man hellhörig geworden, als die Verkünder dieser Theorien noch präziser geworden sind, indem sie die Existenz von großflächigen Nationalstaaten, die in der Regel reich an Bodenschätzen sind, in Frage stellten. So wird allen Ernstes debattiert, wie wäre Rußland „am besten“ zu teilen, wobei nicht nur Ost- und Westsibirien sowie Ferner Osten als selbständige Einheiten entstehen, sondern auch der europäische Teil Rußlands dreigeteilt werden sollte. Natürlich sind das alles „wissenschaftliche Studien“. Es darf aber nicht vergessen werden: Der Diktat von Brest war ebenfalls durch „wissenschaftliche Studien“ eingeleitet.

Es wäre nicht ohne Interesse, sich an das von demjenigen deutschen Politiker formulierte „Politische Testament der deutschen Nation“ zu erinnern, der, fest in der Tradition von Brest stehend, die Welt in die schlimmste Katastrophe aller Zeiten stürzte: „Duldet niemals das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa. Seht in jeglichem Versuch, an den deutschen Grenzen eine zweite Militärmacht zu organisieren, und sei es nur in Form der Bildung eines zur Militärmacht fähigen Staates, einen Angriff gegen Deutschland und erblickt darin nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, mit allen Mitteln, bis zur Anwendung von Waffengewalt, die Entstehung eines solchen Staates zu verhindern, beziehungsweise einen solchen, wenn er schon entstanden, wieder zu zerschlagen“. Der schlechte Stil kann die erschreckende Ähnlichkeit dieser Aussage mit den Auslassungen der US-Neokonservativen von heute (neuerdings auch den CIA-Berichten) nicht verdecken. Nur der europäische Maßstab der Bekenntnisse des „Führers“ wird durch globale Dimensionen ersetzt.

Man darf feststellen: Die entsprechenden Denkschriften sind allesamt bereits da; es fehlt nur noch an einer offenen politischen Entscheidung, die Ideen dieser Denkschriften zu realisieren. Das US-Raketenschutzsystem durfte zwischen 2010 und 2015 fertiggestellt werden; dann ist auch die politische Entscheidung zu erwarten. Es sind kaum Zweifel zulässig, wie diese Entscheidung aussehen könnte. Als die Amerikaner sich im Frühling 1945 überzeugt haben, die Nazis haben es nicht geschafft, die Atombombe rechtzeitig zu bauen, rief Sam Goodsmith, einer der Wissenschaftler, die am amerikanischen Atom-Projekt mitbeteiligt waren, mit Erleichterung aus: „Jetzt brauchen wir auch unsere Bombe nicht explodieren zu lassen!“. Worauf ein Major der US-Armee, mit dem er sprach, antwortete: „Sie müssen verstehen, Sam – wenn wir eine solche Waffe haben, benutzen wir sie auch“. So ist es in Hiroshima und Nagassaki geschehen.

Nun wird auch Westeuropa in eine unangenehme Situation durch Projekte hineingezogen, Stützpunkte des US-Raketenschutzsystems in Polen und Tschechien zu plazieren. Argumente vom Typ: „Es handelt sich lediglich um 10 Antiraketen!“ halten nicht – wo erst 10 Raketen stehen, können später 100 aufgestellt werden. Westeuropa sollte den russischen Militärs mit ihrer rechtzeitigen schroffen Warnung eigentlich dankbar sein – jetzt weiß es wenigstens, was bevorsteht. Die Zeit ist noch da, eine solche Zukunft abzuwenden.

Abschließend läßt sich folgendes sagen: Das Thema unserer heutigen Konferenz bleibt brandaktuell. Der Vertrag von Brest ist leider keine graue Vergangenheit. Sein Gespenst geht in Europa um und nicht nur in Europa. Der Geist von Brest und seine möchte-gern-Vollstrecker sind gefährlich nah an die Machthebel der Welt plaziert. Nicht nur Rußland, sondern auch die ganze übrige Welt muß sich diese Realität vor Augen halten, denn diese Situation stellt an uns alle die Frage von Leben oder Tod. Es ist nicht zu spät, den Rückgang einzuschalten. Das müssen wir aber alle zusammen wollen.

– Schluß –

1 Ein zeitgenössischer deutscher Historiker stellt im Zusammenhang mit dem Übergang vom Manöver- zum Stellungskrieg fest: „Die deutschen Armeen waren überstrapaziert, physisch und psychisch ausgelaugt; dazu waren zwei Armeekorps nach Ostpreußen zur Verstärkung der Abwehr gegen die russische Offensive abgegeben worden“ (Peter März, Der Erste Weltkrieg, München, 2004, S.65)

2 Ludwig Hümmert, Zwischen München und St. Petersburg. Bayerisch-russische Beziehungen von 1779 bis 1918, München, 1977, S.131

3 Ibid., S. 133

4 Ludwig Hümmert, Zwischen München und St. Petersburg. Bayerisch-russische Beziehungen von 1779 bis 1918, München, 1977, S.133-134

5 Vgl. Peter März, Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, München, S. 198-199

6 Ludwig Hümmert, Zwischen München und St. Petersburg. Bayerisch-russische Beziehungen von 1779 bis 1918, München, 1977, S.143-145

7 Ludwig Hümmert, Zwischen München und St. Petersburg. Bayerisch-russische Beziehungen von 1779 bis 1918, München, 1977, S. 146

8 Bayerisches Historisches Staatsarchiv, Abteilung IV Kriegsarchiv, M Kr 13872, 13873 

9 Adolf Hitler, Mein Kampf, München, 1930, S. 754

10 См. А.И.Уткин, Русские во Второй мировой войне, М., 2007, с. 908