Sergej Netschajew im Interview mit „Rossijskaja gaseta“

Herr Netschajew, kann die öffentliche Meinung die Positionierung der Bundesregierung in Bezug auf den Ukraine-Konflikt beeinflussen?

Die offizielle deutsche Doktrin besteht heute in der größtmöglichen Unterstützung für das Regime in Kiew, die „so lange wie nötig“ geleistet werden soll. Und das nicht nur militärtechnisch, sondern auch politisch, wirtschaftlich und finanziell. Die Aufgabe lautet: der Ukraine zum Sieg auf dem Schlachtfeld verhelfen. Die eigentlichen Möglichkeiten der Bundesrepublik sind dabei jedoch beschränkt.

Erstens: Die Deutschen sind nicht bereit, diese Hilfeleistung alleine zu stemmen. Aus Berlin heißt es auf offizieller Ebene immer wieder: Wenn man schwere, geschweige denn offensive Waffen an Kiew schicken soll, dann habe das nur nach Rücksprache mit anderen Verbündeten zu geschehen. In erster Linie schaut die Bundesregierung in Richtung Washington und Paris.

Zweitens: Es gibt nicht so viele Möglichkeiten für militärische Hilfslieferungen in der Bundesrepublik, sollen doch nach Medienberichten in Deutschland die Bundeswehrreserven mit Blick auf die Exporte schwerer Waffen durchaus eingeschränkt sein. 

Drittens: Auch Reaktionen aus Politik und Gesellschaft sind zu berücksichtigen. Innerhalb der deutschen Politik gibt es eine Gruppe, die auf eine Maximierung der Waffenlieferungen bzw. der Lieferungen von schweren Waffen an das Kiewer Regime und auf die s.g. Solidarität drängen sowie Russland zum Rückzug zwingen und eine Niederlage beibringen wollen. Auch von außen wird auf Berlin in dem Sinne Druck gemacht. Ein anderes Verhaltensmuster, das einen großen Teil der deutschen Gesellschaft kennzeichnet, ist die Forderung nach einem Verzicht auf die Lieferungen schwerer Offensivwaffen. Denn das droht Deutschland zur Konfliktpartei zu machen, was alle sowohl doktrinär als auch in der Alltagsrealität selbstverständlich vermeiden wollen. Es ist die Forderung, unter keinen Umständen zur Partei des Konflikts zwischen der NATO und Russland zu werden.

Viele in Deutschland sehen natürlich ein, dass die Unterstützung nach dem Motto «so lange, wie nötig» sich auf die soziale und wirtschaftliche Lage im Land negativ auswirkt. Steigende Energiepreise, der Inflationssprung und rückläufige verfügbare Einkommen lösen vor dem Hintergrund einer uneingeschränkten Unterstützung für das Kiewer Regime keine Begeisterung bei den Menschen aus. Die Stimmungslage der einfachen Deutschen ist eine andere als die Positionierung der Politik. Sehr viele wollen keine Konfrontation mit Russland, schätzen den Weg der Aussöhnung, den wir gebahnt haben und auf den sich Russland trotz kolossaler Opfer im Kampf gegen den Nazismus im Großen Vaterländischen Krieg eingelassen hat. Man weiß um den entscheidenden Beitrag unseres Landes zur deutschen Einheit und verurteilt die zügellose Diskreditierung von allem, was einen wie auch immer gearteten Bezug zu Russland hat. Also sind die Meinungen hierzu gegenteilig.

Die Lieferungen der deutschen Waffen, aus denen russische Soldaten und Zivilisten im Donbass getötet werden, legen offensichtliche historische Parallelen nahe. Vielen in Deutschland ist das bewusst. Bei weitem nicht alle unterstützen den Druck, dem man die Bundesregierung aussetzt, um die aktuell so vielfach diskutierten Lieferungen von Kampfpanzern vom Typ «Leopard 2» zu erzwingen. Was die Lieferungen der Schützenpanzer «Marder» und des Flugabwehrraketensystems «Patriot» anbelangt, so ist die entsprechende Entscheidung in Berlin gefallen. Diesen Schritt betrachten wir als unakzeptabel, bedauerns- und verurteilungswürdig.    

Wieso ist die deutsche Öffentlichkeit, die nach Ihrer Lesart die Waffenlieferungen an die Ukraine verurteilt, nicht in der Lage, die deutsche Politik zur Änderung ihrer Position zu bringen?

In letzter Zeit gehört es sich in Deutschland nicht, auf Meinungen zu hören, die vom Mainstream abweichen. Es gibt eine Doktrin, die von der Politik mit Beteiligung von Verbündeten aus euroatlantischen Strukturen erarbeitet wurde. Anderslautende Positionen werden marginalisiert und diskreditiert. Die jüngsten Umfrageergebnisse in der Bundesrepublik Deutschland machen deutlich, dass über die Hälfte der Befragten sich nicht trauen, ihre eigene Meinung zu den einen oder anderen Entwicklungen zu äußern.

Das Gleiche geschieht in der deutschen Medienlandschaft. Es gibt das Hauptnarrativ, das die Entwicklungen in der Ukraine einseitig darstellt. Das hat mit der Objektivität und Unvoreingenommenheit nichts zu tun. Versuche, einen alternativen Standpunkt zu lancieren, werden hintertrieben. Ihre Kollegen aus russischen Medien, die in deutscher Sprache senden, wurden mit Sanktionen belegt. Auch der Botschaft versucht man den Zugang zum medialen Podium zu entziehen. Wir finden aber unsere eigenen Möglichkeiten, uns zu artikulieren.

Wie arbeitet denn die russische Botschaft angesichts dieser drakonischen Maßnahmen der Bekämpfung Andersdenkender mit deutschen Politikern, Politikwissenschaftlern und Experten zusammen?

Nach Beginn der militärischen Spezialoperation haben sich die Arbeitsbedingungen für unsere Auslandsvertretungen, also nicht nur für die Botschaft, sondern auch für die Generalkonsulate, ernsthaft verändert. In Berlin entschied man sich bewusst für eine Zerstörung des über Jahrzehnte aufgebauten Gerüstes der deutsch-russischen Beziehungen. Für heute sind die wichtigsten Formate einer einst von ihrem Ausmaß her einmaligen bilateralen Kooperation von der deutschen Seite einseitig auf Eis gelegt worden.

Die Kontakte der deutschen Ministerien und Ressorts mit der russischen Botschaft wurden erheblich heruntergefahren. Die deutsche Wirtschaft, die bekanntlich in Russland sehr stark vertreten war, wird sehr stark unter Druck gesetzt. Damit will man deutsche Unternehmer zur Aufgabe jedweder Verbindungen nach Russland zwingen. Einige deutsche Firmen setzen aus diesem Grund die langjährige Zusammenarbeit mit der Botschaft und den Generalkonsulaten aus. Das beeinträchtigt den Betrieb unserer Auslandsvertretungen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt selbstredend der Sicherheit unserer diplomatischen Vertretungen und deren Angehöriger.

Ist die deutsche Wirtschaft so unpolitisch, dass sie bereit ist, Einkommeneinbrüche einzustecken und nur als Beobachter dazustehen, ohne die Situation zu verändern zu versuchen?

Ich wiederhole, die Politik setzt die deutsche Wirtschaft massiv unter Druck. Es ist schwer, das zu übersehen. Den bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ist ein spürbarer Schaden bereits zugefügt worden. Die Zusammenarbeit wird von der deutschen Seite konsequent heruntergefahren. Arbeitsformate und Organisationsstrukturen werden abgebaut. Die Wirtschaft hält man zur Manifestation eines unverbrüchlichen Bekenntnisses zur antirussischen Politik an.

Die meisten Vertreter der deutschen Wirtschaft verstehen jedoch, dass dieser Weg ihren Interessen zuwiderläuft. 2013 hatte Deutschland Platz 1 in der Rangliste der russischen Auslandshandelsparnter inne. Rund sechs Tausend deutsche Firmen waren in Russland vertreten. Es ist naheliegend, dass die deutsche Wirtschaft, die sich führende Positionen auf dem russischen Markt erarbeitet hatte, sich nicht aus Russland zurückziehen will. Viele Unternehmer wollen ihre etablierten Netzwerke und Präsenz in unserem Land erhalten und suchen deshalb nach akzeptablen Formaten und Wegen, die Zusammenarbeit fortzuführen.

Es ist unstrittig, dass die vergangenen 50 Jahre der Erfolgsgeschichte des deutschen Wirtschaftsmodells in vielerlei Hinsicht auf der zum gegenseitigen Vorteil stattgefundenen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und Russland aufbauten. Das wurde vom russischen Präsidenten mehrmals betont. Für Deutschland waren wir der führende Energielieferant, mit dem auf der Grundlage langfristiger Verträge und vertretbarer Preise zusammengearbeitet wurde, wovon die deutsche Volkswirtschaft nur profitierte. Nun kommt es so, dass die von Berlin gegen Russland eingeführten Sanktionen gravierende soziale und wirtschaftliche Probleme für die Menschen in Deutschland herbeiführen.

Gibt es doch noch erfolgreiche intakte Projekte zwischen Russland und Deutschland? Oder wird ausnahmslos abgebaut?

Ich habe bereits gesagt, dass sehr viele deutsche Unternehmen am russischen Markt festzuhalten versuchen. Sie wollen den seit Jahrzehnten herausgearbeiteten Kooperationsbestand nicht aufgeben und versuchen sich anzupassen, um die politischen Instanzen nicht allzu sehr zu verärgern.

Die erfolgreiche Zusammenarbeit in der Kriegsgräberfürsorge besteht weiter. Die Vereinbarungen mit Deutschland, sowjetische Kriegsgräberstätten, von denen es hierzulande über vier Tausend gibt, instandzuhalten, sind weiterhin intakt. Das einschlägige Regierungsabkommen jährte sich neuerdings zum 30. Mal. Es gibt auch weitere Beispiele.

In einem Ihrer Interviews sagten Sie, Deutschland würde halb freiwillig halb zwangsläufig die besonderen Beziehungen zu Russland aufgeben. Wie stellen sich aus Ihrer Sicht einfache Deutsche die Zukunft der Beziehungen zwischen unseren Ländern vor?

Ich habe bereits betont, dass die Stimmungslage einfacher Menschen eine andere ist als die Positionierung der Politik. Die Menschen wollen keine Konfrontation. Sie wissen um den Weg der Aussöhnung, der nach dem Krieg gegangen worden war. Der einfache deutsche Bürger ist überhaupt nicht geneigt, in Russland einen Feind zu sehen. Er sieht und versteht alles wunderbar und stellt sich die Frage: Haben denn die Russen uns etwas Böses angetan? Warum haben wir, die Deutschen, uns mit der antirussischen euroatlantischen Politik so identifiziert? Warum liefern wir tödliche Waffen an Kiew und führen wirtschaftliche, mediale und sonstige Sanktionen ein? Und was kommt danach, wenn es an der Zeit ist, „Steine zu sammeln“, und wenn es um Modalitäten für ein neues System der europäischen Sicherheit geht?  Ist das denn ohne Russland oder gegen Russland realisierbar?

Tatsächlich konnte man sich in der Vergangenheit schwer vorstellen, dass Deutschland doktrinal über ein kollektives Sicherheitssystem gegen Russland nachdenken könnte. Alle Anstrengungen galten der Zusammenarbeit und dem Dialog. Heute aber ist es die transatlantische Verzahnung, der die Bundesregierung eine absolute Priorität einräumt. Berlin schaut auf die USA. Eigeständige Schritte sind fast ausgeschlossen. Zumindest politisch findet nichts ohne Rücksprache mit Washington statt.

Sie haben mehrmals von der Diskriminierung gegenüber Russen in Deutschland gesprochen. Sind diese Probleme immer noch da?  Wurden derartige Vorgänge untersucht? Sieht sich das Russische Haus in Berlin mit Problemen in seinem Alltag konfrontiert?

In der Tat haben wir im Frühling 2022 einen sprunghaften Anstieg der Diskriminierung von Russen und russischsprachigen Landsleuten in der Bundesrepublik verzeichnet. Die Situation nahm den Charakter einer gezielten Hetzjagd aufgrund der Sprache und Nationalität an.

Wir versuchten alle denkbaren Maßnahmen zu ergreifen, um Rechte und Interessen unserer Landsleute zu gewährleisten. Es wurde eine «E-Mail-Hotline» eingerichtet, über die  Beleidigungen, Kündigungen, Diskriminierungen, Drohungen, Leistungsverweigerungen etc. hundertfach gemeldet wurden. Wir haben zuständige deutsche Behörden, Politik und Medien über diese Manifestationen der Unterdrückung informiert und ein Ende der Übergriffe gefordert. Unsere Bemühungen haben Wirkung gezeigt. Gegenwärtig stellen wir einen erheblichen Rückgang bei der Diskriminierung der russischen Bürger und der russischsprachigen Landsleute fest. In Deutschland bildeten sich Bürgerinitiativen zur Bekämpfung der Russophobie. Die Botschaft und die russischen Konsulareinrichtungen verfolgen dieses Thema sehr genau und sind bemüht, keinen einzigen unangenehmen Vorfall dieser Art außer Acht zu lassen.

Das Russische Haus ist nach wie vor geöffnet und trägt die russische Kultur in die breite Masse. Vor kurzem wurden dort vom Väterchen Frost Lichter am Weihnachtsbaum angezündet. Es soll ein neuer russischer Film «Tscheburaschka» gezeigt werden. Wenn man uns keine Steine in den Weg legt, werden wir unsere Gäste mit der unverwechselbaren Kultur unseres Landes weiter bekannt machen, verschiedene Veranstaltungen durchführen, Ausstellungen organisieren und Filme zeigen. Hauptsache, man hindert uns nicht daran.    

Inwiefern lässt sich die Cancel Culture in Bezug auf die russische Kultur und Sprache in Deutschland erkennen?

Nach Beginn der militärischen Spezialoperation war in der deutschen Medienlandschaft, in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Bildung eine recht radikale Ablehnung gegen alles zu beobachten, was mit unserem Land verbunden ist. Zahlreiche Auftritte und Gastspiele russischer Künstler wurden abgesagt, gemeinsame Projekte und Kooperationsprogramme wurden auf Eis gelegt. Die «Rossijskaja Gazeta» berichtete ja über unheilvolle politisch motivierte Vertragskündigungen mit international bekannten russischen Kulturschaffenden. Die Zeit zeigte jedoch, dass unsere Missgönner nicht in der Lage sind, die russische Kultur, Kunst und Sprache zu canceln.  Heute ist es völlig offensichtlich.

Sie deuteten an, dass es in Deutschland viele Russisch-Lerner gab. Wie sieht es damit heute aus?

Die Zahl derer, die in Deutschland Russisch lernen wollen, ist nach wie vor sehr groß. Im Vergleich zur Zeit der Themenjahre der russischen und deutschen Sprache mag sie etwas zurückgegangen sein. Dennoch gibt es in fast allen Bundesländern Schulen und Hochschulen, an denen Russisch unterrichtet wird. Auch das Russische Haus bietet Russisch-Kurse an. Das Interesse für Russisch bleibt in Deutschland weiter bestehen.

Ihre diplomatische Laufbahn hat in der DDR begonnen. Sehen Sie sich nach dem alten Deutschland zurück?

Ich erinnere mich sehr gern an die Jahre, die ich in der DDR verbrachte und in denen ich viele Freundschaften schloss. Ich stimme denen nicht zu, die der politischen Konjunktur zuliebe darüber zu spekulieren versuchen, dass in der DDR angeblich alles schlecht gewesen sei. Das stimmt so nicht. Vieles von dem, was es an positiven Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR gab, konnte man auf die Beziehungen zwischen Russland und dem geeinten Deutschland erfolgreich übertragen. Viele unserer Freunde leben noch und sind wohlauf. Wir sind bemüht, diesen Austausch aufrechtzuerhalten und schätzen diese Freundschaften sehr. 

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